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Die Zäsur

Interview mit Dr. Felix Schotland

Der 7. Oktober hat tiefe Spuren in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland hinterlassen. Vermehrt wird über Auswanderung nachgedacht, manche äußern sich aber auch optimistisch. Eine Bestandsaufnahme.

Die Zäsur – Jüdische Gemeinden in Deutschland ziehen ein Jahr nach dem 7. Oktober Bilanz

Original Artikel Erschienen in jungle.world 2024/39

Von Guido Sprügel

Felix Schotland kann sich noch genau erinnern, wo er als Fünfjähriger war, als 1973 der Yom- Kippur-Krieg ausbrach. Heutzutage gehört er dem Vorstand der Synagogen-Gemeinde in Köln an. »Der 7. Oktober hat einen ähnlichen Schock ausgelöst. Man weiß genau, wo man an dem Tag war. Ähnlich wie auch am 11. September«, erzählt er der Jungle World. »Mir war sofort klar, dass sich danach vieles ändern würde; sowohl in Israel als auch für das jüdische Leben außerhalb Israels.« Kurz nach dem Überfall habe es große Solidarität in Köln gegeben, zum Beispiel einen Schweigemarsch zur Synagoge unter Beteiligung der christlichen Kirchen.

Felix Schotland vom Vorstand der Synagogen-Gemeinde in Köln erzählt von Treffen mit den Kölner Islamverbänden. Zwar habe man sich auf ein gemeinsames Papier geeinigt, in dem man den Überfall der Hamas verurteilte. Der Brief sei allerdings nicht wie abgesprochen auf den Websites der Verbände veröffentlicht worden.

Doch Schotland ahnte, dass der 7. Oktober eine Zäsur darstellt. Ihm war klar, dass Israel nach dem ersten Schock reagieren würde, reagieren müsse. »Mir ging gleich durch den Kopf: Bitte steht auch an unserer Seite, wenn Israel reagiert.« Spätestens als es so weit war, habe sich die Stimmung geändert. Viele vermeintliche Nahostexperten hätten sich zu Wort gemeldet. Es habe Ratschläge gegeben, mit der Hamas zu verhandeln. »Aber hier geht es nicht um die Einrichtung einer Tempo-30-Zone. Wie soll man mit einer Terrororganisation sprechen, die das Ziel hat, Israel zu vernichten und gezielt Juden zu töten?«

Kritik an Israel sei immer stärker von offenem Judenhass geprägt gewesen. Schotland erzählt außerdem von Treffen mit den Kölner Islamverbänden. Zwar habe man sich auf ein gemeinsames Papier geeinigt, in dem man den Überfall der Hamas verurteilte. Der Brief sei allerdings nicht wie abgesprochen auf den Websites der Verbände veröffentlicht worden.

Lage erheblich verschlechtert

Schon vor dem 7. Oktober sei jüdisches Leben in Deutschland nicht sicher gewesen, so Schotland. An ein Leben mit Sicherheitsschleusen und bewaffneten Polizisten vor jüdischen Einrichtungen sei man lange schon gewöhnt gewesen. Seit Oktober habe sich die Lage aber erheblich verschlechtert, der Antisemitismus in allen Lebenslagen zugenommen. Viele Gemeindemitglieder dächten an Auswanderung.

Auch in der Jüdischen Gemeinschaft Schleswig-Holsteins denken viele an Auswanderung. Für die Geschäftsführerin Viktoria Ladyshenski gibt es ein Leben vor und eines nach dem 7. Oktober.

Schon vorher hätten Gemeindemitglieder darum gebeten, die Gemeindezeitung in einem neutralen Briefumschlag zu verschicken, um nicht als jüdisch erkannt zu werden, erzählt sie der Jungle World. Seit dem 7. Oktober sei aber nichts mehr wie zuvor: »Die Juden werden als Kollektiv für die Ereignisse im Nahen Osten in Haftung genommen und verantwortlich gemacht.«

Die Gemeinschaft hat ihren Sitz im Kieler Stadtteil Gaarden-Ost. Der ist unter anderem türkisch und arabisch geprägt. Ladyshenski hätte sich mehr Solidarität von den islamischen Gemeinden gewünscht. Stattdessen sei die Stimmung im Stadtteil nach dem 7. Oktober gekippt, die einst guten Kontakte seien seitdem zum Teil abgerissen. Die muslimischen Vereine hätten seitdem kaum noch Kommunikation gesucht. Sie berichtet, dass Kinder muslimischer Familien nach dem 7. Oktober sogar in Festkleidung in den Kindergärten erschienen seien.

Josef Schuster: »Deutschland ist unsicherer geworden«

Die Enttäuschung ist ihr anzumerken. Den Umgang mit der verstärkten Zuwanderung aus muslimisch geprägten Staaten findet sie problematisch. »Es kommen sehr viele Menschen aus arabisch-muslimischen Ländern zu uns, in denen Antisemitismus ein fester Bestandteil der Identität ist.« Aufgrund ihrer kulturellen Prägung sei nicht nur der Judenhass ein großes Problem, sondern auch die Ablehnung demokratischer Werte. »Für unsere Werte müssen wir alle kämpfen«, sagt sie.

Manchmal muss Ladyshenski auch über ihre eigene Naivität schmunzeln. Als sie vor über 30 Jahren aus Kiew nach Deutschland kam, hätten ihr vor allem Grußkarten für jüdische Feste in den Geschäften gefehlt. Aus heutiger Sicht kommt ihr dieses Problem erschreckend banal vor.

»Deutschland ist unsicherer geworden, das spüren wir alle. Für Jüdinnen und Juden gilt das besonders«, fasst Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, die derzeitige Situation im Gespräch mit der Jungle World zusammen. »Jüdinnen und Juden sind in ihrem Alltag bedroht. Der 7. Oktober hat bei vielen Leuten radikale Ressentiments offengelegt, die sie wohl vorher bereits hatten.« Immer mehr Jüdinnen und Juden vermieden es, sich in der Öffentlichkeit als jüdisch erkennbar zu machen.

»Islamismus wird verharmlost und bagatellisiert«

»Die Angriffe nehmen zu«, sagt auch Noam Petri, der Vizepräsident der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD), der Jungle World. »Studienfreunde bekommen Anrufe oder Whatsapp-Nachrichten mit eindeutig antisemitischem Beiklang.« An seiner Universität – der Charité – sei er bekannt wegen seines Engagements bei der JSUD. Er nehme wahr, dass ihm einige Kommilitonen nicht wohlgesinnt seien. »Ich selbst trage meine Kippa nicht öffentlich und einige Freunde verstecken ihre Ketten mit Davidstern.«

Zwar richte sich der Hass derzeit in erster Linie gegen Israel und Juden und Jüdinnen, so Petri. Doch danach, da ist er sich sicher, »ist die westliche Zivilisation dran«. Die größte Gefahr sieht er darin, den Islamismus zu unterschätzen. Hier versage der Westen gerade kollektiv: »Die Gefahr des Islamismus wird verharmlost und bagatellisiert.«

Er ist sich sicher: »Die demokratische Mitte muss die aktuellen Probleme lösen. Sonst werden es die Rechtsextremen übernehmen.« Er möchte ohne Tabus darüber diskutieren, wie die westliche Freiheit verteidigt werden könne. Seine Großmutter habe ihn schon 2015 gewarnt: Wenn es nicht gelinge, die Menschen aus Ländern, in denen die Vernichtung Israels Staatsräson ist, schnell und gut zu integrieren, werde er irgendwann auswandern. Seine Großmutter lebt bereits in Israel.

Gefahr von allen Seiten

An Auswanderung denken auch viele jüdische Freunde von Nathalie Friedlender von der Bildungsstätte Anne Frank. Sie leitet das pädagogische Team für politische Bildung und hat nach dem 7. Oktober eine rasante Vermehrung der Anfragen festgestellt. Der Jungle World sagt sie, an sie und ihr Team hätten sich schon am 9. Oktober viele Lehrerinnen und Lehrer gewendet. In deren Klassen hätten sich arabisch-muslimische Schülerinnen und Schüler israelfeindlich geäußert und in einigen Familien sei der 7. Oktober mit einem großen Fest gefeiert worden.

Die neue antisemitische Realität lässt sich indes nicht darauf beschränken. »Die Gefahr für Jüdinnen und Juden kommt mittlerweile von allen Seiten.« Friedlender nennt die BDS-Bewegung und den Antisemitismus von rechts. Die Bildungsstätte will dem mit Aufklärung begegnen. Dabei geht es Friedlender zufolge jedoch nicht darum, andere zu belehren, sondern vielmehr um die Frage, wie man über den Konflikt reden könne.

»Dass antisemitische Gewalt noch häufiger und extremer geworden ist, gehört zu einem neuen Alltag.« Alexander Rasumny, Beratungsstelle Ofek

Die Beratungsstelle Ofek berät Opfer antisemitischer Gewalt. Auch sie erhielt nach dem 7. Oktober deutlich mehr Anfragen. »In den ersten vier Wochen verzwölffachte sich das Beratungsaufkommen im Vergleich zu Vorjahren«, teilt der Pressesprecher Alexander Rasumny der Jungle World mit. »Insgesamt erreichten die Beratungsstelle im ersten Jahr nach dem 7.

Oktober 2023 vier- bis fünfmal so viele Beratungsanfragen wie innerhalb der letzten Jahresstatistik.« Rasumny ergänzt: »Die gesellschaftliche Stimmung hat sich nachhaltig verschoben. Dass antisemitische Gewalt noch häufiger und extremer geworden ist, gehört zu einem neuen Alltag.«

Vadim Basin setzt der Angst und den Zweifeln einen gnadenlosen Optimismus entgegen. Er leitet die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der jüdischen Gemeinde Chabad in Berlin und erzählt begeistert von der Bildungseinrichtung Pears Jüdischer Campus. Dieser wurde im Sommer 2023 eröffnet und ist der erste jüdische Campus in Berlin seit der Shoah. In der Kita und der Schule lernen Kinder unterschiedlichen Glaubens friedlich miteinander. »Natürlich war der 7. Oktober eine Zäsur und versetzte einige jüdische Menschen in eine Art Schockstarre«, sagt Basin der Jungle World. »Gerade deshalb gilt es aber, zusammenzuhalten und den Blick nach vorn zu richten, um Licht dahin zu bringen, wo einst Dunkelheit war«. Die Bedrohung jüdischen Lebens sei real, aber der Campus wolle das Positive stärker hervorheben und seine jüdischen Kinder dazu erziehen, selbstbewusst in der Öffentlichkeit aufzutreten.

Die antisemitische Gewalt geht nach Basins Ansicht von einer lauten Minderheit aus. Er wünscht sich, dass dieser die schweigende Mehrheit entgegentritt. Den Kindern gelinge es doch auch, friedlich miteinander zu spielen und zu lernen. An besondere Sicherheitsvorkehrungen sei man als Jude schon vor dem 7. Oktober gewöhnt gewesen. Deshalb ist auch der Campus mit einer Mauer umgeben. Aber, so Basin: »Die Sicherheitsmauer ist mit farbenfrohen Graffiti-Motiven und jüdischen Symbolen verziert und verfügt über zahlreiche Sichtfenster. Jüdisches Leben ist positiv und soll nicht im Verborgenen stattfinden.« Die Scheiben seien dennoch aus Panzerglas, ergänzt er. Daran habe der 7. Oktober nichts geändert.

mit freundlicher Gemehmigung © Jungle World Verlags GmbH