Interview mit Abraham Lehrer
Wo ist die Grenze zwischen legitimer Israel-Kritik und Antisemitismus?
Was löst der Jubel über Angriffe auf Israel bei deutschen Juden aus? Was bedeuten der Krieg im Nahen Osten und die Auseinandersetzungen darüber für die jüdischen Gemeinden hier zu Lande? Fragen an Abraham Lehrer, den Vorsitzenden der Kölner Synagogengemeinde.
Wir haben es am vergangenen Dienstag wieder erlebt: In Berlin bejubeln Demonstranten Raketenangriffe auf Israel. Was löst das bei Ihnen aus?
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Jugendlichen. Nicht an diesem Dienstag, es ist länger her. Der Jugendliche fragte mich, als das Hamas-Massaker gefeiert wurde, warum wir uns nicht umgekehrt freuen, wenn angeblich Zehntausende palästinensische Zivilisten im Gaza-Krieg umkommen. Meine Antwort: Es ist für mich nicht zu verstehen, wie man sich über so etwas freuen kann. Das will mir nicht in den Kopf. Die Situation in vielen arabischen Ländern erinnert mich an das Irland früherer Zeiten. Frieden gab es dort erst, nachdem die Schulbücher geändert wurden. Frieden in Nahost wird es erst geben, wenn das Predigen von Hass gegen Israel und die Juden aufhört. Sonst hilft auch eine Zwei-Staaten-Lösung nichts. Als 2015 der Zuzug syrischer Flüchtlinge begann, habe ich darauf hingewiesen: Das sind Leute, denen in ihrer alten Heimat tagein, tagaus Israelhass im Radio und im Fernsehen vorgespielt wurde. Diesen Hass haben viele mitgebracht. Sie haben ihn nicht bei der Ausreise abgegeben.
Aber die Leute, die zum Beispiel in der Berliner Sonnenallee Angriffe auf Israel feiern, leben doch zum Teil seit Jahrzehnten hier, sind oft hier zur Schule gegangen …
Durch die Zuwanderung seit 2015 ist diese Gruppe viel größer geworden. Wenn früher 20 Leute entsprechende Parolen riefen, war das keine große Berichterstattung wert. Jetzt sind es 100 oder 200. Warum freuen sich Leute, wenn Raketen auf die Großstädte Israels gerichtet werden, um dort Menschen zu ermorden?
Es sind aber auch Demonstranten aus der europäischen linken Szene dabei.
Ja, die Linken. Anfänglich haben sie Israel unterstützt. Aber seit Israel Kriege gewonnen hat, sind sie umgeschwenkt. Israel ist nicht mehr der Schwächere, der ihre Sympathie hat. Das Schema David gegen Goliath funktioniert nicht mehr. Linksextremisten haben palästinensischen Terroristen geholfen. Sie nehmen es in Kauf, wenn das Existenzrecht Israels in Frage gestellt wird.
Netanjahu ist eine umstrittene Persönlichkeit
Nun wird auch in Israel selbst hart über die Politik der Regierung diskutiert. Wo sehen Sie die Grenze zwischen legitimer Kritik und Antisemitismus?
Die Politik, die diese Regierung macht, ist nicht meine Politik. Für mich persönlich, aber auch für die jüdische Gemeinschaft, in Köln, in Deutschland, weltweit, ist Netanjahu eine umstrittene Persönlichkeit. Aber jetzt, mitten im Krieg, ist nicht die Zeit, um vor dem 7. Oktober gemachte Fehler aufzuarbeiten oder Wahlkampf zu betreiben. Es ist aber legitim, die angestrebten Veränderungen im Justizwesen abzulehnen, weil sie die Grundrechte gefährden. Wenn dagegen jemand sagt, dass der Staat Israel von der Landkarte verschwinden soll, dann überschreitet er eine Grenze. Es ist antisemitisch, den Staat und alle Bürger in Geiselhaft zu nehmen und zu sagen: Ihr habt eure Existenzberechtigung verloren.
Nach dem Massaker vom 7. Oktober gab es eine Welle der Solidarität mit Israel und mit den jüdischen Gemeinden auch hier in Deutschland. Was ist davon geblieben?
Ehrlich gesagt wenig. Vor unserer Kölner Synagoge stehen Blumen. Jeden Tag kommen Leute, bringen neue Blumen und nehmen verwelkte mit. Das ist wunderbar. Aber es ist leider die Ausnahme. Bei einem großen Teil der Gesellschaft ist die Empathie für den Staat Israel und sein Handeln verlorengegangen. Israel gilt als der böse Goliath. Nochmals, man kann Netanjahu mit guten Gründen kritisieren. Aber an Israel werden Maßstäbe angelegt wie an keinen anderen Staat. Im russisch-ukrainischen Krieg wird ständig kritisch diskutiert, ob die Angaben über Kriegstote stimmen. Aber im Fall von Israel werden palästinensische Zahlen einfach hingenommen. Da werden Fotos gezeigt von angeblich toten Kindern, die keinerlei Verletzungen aufweisen. Und dann der Ruf nach der Zwei-Staaten-Lösung. Mit wem denn? Mit Hamas-Leuten, für die der 7. Oktober der schönste Tag in ihrem Leben ist? Oder mit Abu Mazen (Kampfname von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, d.Red.), der seit Jahrzehnten keine Wahlen zugelassen hat?
Nun gut, die eine Frage ist, ob eine Zwei-Staaten-Lösung realistisch ist – aber eine andere ist es, warum Israel seine Siedlungspolitik immer weitertreibt.
Natürlich ist Kritik an Leuten legitim, die ein Großisrael wollen. Wenn extremistische Minister im Kabinett Netanjahu sogar die Einverleibung von Gaza anstreben, dann ist das gefährlicher Unfug. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass eine Mehrheit der israelischen Gesellschaft das gutheißt.
Zentralrat der Juden hat Israels Justizreform verurteilt
Was bedeuten diese Auseinandersetzungen für Mitglieder ihrer Gemeinde?
Es gibt ehemalige Kölner Gemeindemitglieder, die jetzt in Israel leben. Alte Schulkameraden. Ich habe eine Schwester in Israel und einen Schwager. Ich beschäftige mich bestimmt mehr mit der Politik Israels als deutsche Durchschnittsbürger, aber ich maße mir nicht an, darüber zu richten. Dass der Zentralrat der Juden in Deutschland die israelische Justizreform klar verurteilt hat, ist eine große Ausnahme. Wir würden nicht wollen, dass sich Israel bei der Frage einmischt, wie wir deutschen Juden gegenüber Regierungen agieren. Und umgekehrt sollten wir uns nicht ständig in Israel einmischen. Trotz der großen Nähe sind wir hier zu weit weg.
Sie haben eben über die Blumen vor der Kölner Synagoge gesprochen, die an die vielen Geiseln erinnern, die noch in der Gewalt der Hamas sind. Auch manche betroffenen Familien werden deutschen Gemeindemitgliedern persönlich nahestehen – oder?
Unter ihnen sind ja auch Doppelstaatler mit deutschem und israelischem Pass. Erinnern Sie sich, wie die Hamas kürzlich sechs Geiseln umgebracht hat, als israelische Soldaten in einen benachbarten Tunnel eingedrungen sind? Das hat mich in der Einschätzung bestätigt, dass es kaum möglich sein wird, die noch gut 100 Geiseln auf einen Schlag freizubekommen. Wenn die Hamas sie freilassen würde, hätte die israelische Armee keinen Grund mehr, die Hamas zu schonen. Andererseits, wenn die israelische Armee es nach einem Jahr nicht geschafft hat, alle Geiseln zu befreien, wird sie es auch in einem weiteren Jahr nicht schaffen. Eine fürchterliche Situation. Israel ist ein kleines Land. Jeder kennt eine Familie, die betroffen ist. Und natürlich wirkt das auf unsere Gemeinde zurück. Es gibt Videos, auf denen die Hamas Menschen zu Tode foltert, so schrecklich, dass sie in der deutschen Öffentlichkeit nicht gezeigt werden. Gemeindemitglieder haben sie gesehen. Wir haben Überlebende des Massakers eingeladen. Wir können uns gar nicht vorstellen, mit welchen Traumata sie zu kämpfen haben. Bis heute.
Hoher Anteil von latent antisemitischen Einstellungen
Jetzt hat das Land NRW eine Studie in Auftrag gegeben, aus der hervorgeht, wie hoch der Anteil von Menschen mit antisemitischen Auffassungen in Deutschland ist. Da geht es nicht um zehn, sondern je nach Fragestellung um bis zu 40 Prozent der Bevölkerung. Hat Sie das überrascht?
Nicht wirklich. Schon vor dem Mauerfall gab es Umfragen, die auf latent antisemitische Einstellungen bei rund einem Fünftel der Menschen in der damaligen Bundesrepublik hinwiesen. Das hat die deutsche Gesellschaft als Ganzes, aber auch die deutsche jüdische Gemeinschaft immer als eine Art Rechenfehler interpretiert. Wir alle haben das nie richtig wahrhaben wollen, zumal rechtsextremistische Parteien wie NPD, Republikaner, DVU, pro NRW sich nie lange in Parlamenten gehalten haben. Die AfD hat da eine ganz andere Bedeutung. Wenn heute 19 Prozent der Befragten sagen, die Shoa, den Holocaust habe es nie gegeben, und wenn zwölf Prozent glauben, die jüdische Religion erlaube Ritualmorde an Kindern – ja, da haben wir in der Bildungspolitik etwas grundlegend falsch gemacht. Hinzu kommt die Tatsache, dass der Anteil von Menschen mit antisemitischen Einstellungen bei Muslimen besonders hoch ist. Auch unabhängig vom Datum des Zuzugs. Das hat nichts mit 2015 zu tun. Diese Ressentiments werden in Familien offenbar weitergegeben.
Sprechen Sie darüber mit den muslimischen Verbänden?
Vor Monaten hat Staatsminister Nathanael Liminski die NRW-Landesverbände der Ditib, des Zentralrats der Muslime und weiterer Verbände eingeladen und zu einer gemeinsamen Erklärung bewegt. Fragen Sie lieber nicht, wie lange es gedauert hat, bis die muslimischen Verbände den Text veröffentlichten. Einer hat es bis heute nicht getan. Seither ist Funkstille. Ich laufe diesen Verbänden nicht hinterher. Stattdessen habe ich mir gesagt, es muss doch zumindest eine Moscheegemeinde geben, mit der wir zusammenarbeiten können. Ich habe einen Imam gefunden. Wir sind zusammen vor eine Schulklasse gegangen. Dann hat sich eine Dame aus seinem Moscheevorstand in antisemitischer Weise geäußert. Ich finde wirklich keine Partner. Schon gar nicht die Ditib. Sie kennen die Auffassungen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan über Israel. Diese Leute wollen nicht, oder sie können auch nicht, wie immer Sie es sagen wollen.
Was bedeutet diese Lage, über die wir gesprochen haben, für die Zukunft der Juden in Deutschland? Haben Sie Gemeindemitglieder, die auf den sprichwörtlichen gepackten Koffern sitzen?
Das würde ich so nicht sagen. Aber lassen Sie uns mal an die 1990er Jahre zurückdenken. Nach den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen und den Morden von Solingen gab es Lichterketten. Nach antisemitischen Vorfällen haben sich Leute eine Kippa aufgesetzt aus Solidarität. Und heute? In Köln haben die beiden großen christlichen Kirchen zu einem Schweigemarsch aufgerufen – großartig. Aber sonst kommt aus der Mitte der Gesellschaft nicht viel. Im Gegenteil, mir erzählen Gemeindemitglieder, dass Freundschaften zerbrochen sind, weil die nichtjüdischen Freunde sagen: Wenn Du Israel unterstützt, dann geht es nicht mit Dir. Wir möchten die jüdische Gemeinschaft in Deutschland halten, aber es fehlt an einem klaren Signal der Mehrheitsgesellschaft. Trotzdem ist die Stimmung nicht so in den 1990er Jahren, als jüdische Familien übers Weggehen nachdachten. Ich kenne nur einen Fall, in dem ein Gemeindemitglied nach Israel umziehen will. Und dessen Entschluss fiel schon vor dem 7. Oktober 2023.
Es gab allerdings auch mal eine Zeit, in der Juden sogar gern nach Deutschland zogen, aus der ehemaligen Sowjetunion etwa …
Ich habe immer gesagt, Deutschland ist das zweite Land, in dem Milch und Honig fließen. Die Bedingungen, die unser Staat jüdischen Flüchtlingen bietet, sind etwas ganz Besonderes. Aber auch ihnen ist nicht verborgen geblieben, dass der offen gezeigte Antisemitismus explosionsartig zugenommen hat. Dass er sich zeigt, wo man ihn nie vermutet hätte.
Zur Person: Abraham Lehrer (auch Abraham Joseph ‚Ebi‘ Lehrer, geboren am 14. April 1954 in New York City) ist Vorsitzender der Synagogen-Gemeinde Köln, Präsident der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) und Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Von Raimund Neuß, Erchienen in der Kölnischen Rundschau am 06.10.2024